Im
Dialog mit der Natur
Herta
Seibt de Zinser und Ferdinand Tosch
im Georg Scholz-Haus Waldkirch
Vernissage
am 20.10.2013
Gedanken
von Stefan Tolksdorf
Am Anfang war das Staunen - über die Schöpfungskraft und
Vielfalt der Natur, am Anfang war: die natürliche Linie - die
mit der kreativen Kraft der Gedanken und Gefühle korrespondiert,
eine Linie, die Sichtbares aufgreift und Unsichtbares sichtbar macht.
Die lebendige Linie, "Lebenslinie", als Ausgangspunkt zweier
Künstler(in), die sich der Bewegung des Wachstums im Vollzug
"verschrieben haben" - Herta Seibt-de Zinser und Ferdinand
Tosch.
Sie lernten einander erst während der Vorbereitungen zu dieser
Ausstellung kennen - und fanden die von anderen festgestellte Wesensähnlichkeit
des Blicks bestätigt. Metamorphose, Wachstum und Transformation
sind Schlüsselbegriffe für das Werk beider.
Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die organische Linie.
Ferdinand Tosch ist ein seit Jahrzehnten suchender und findender Originalgrafiker,
der zu immer neuen halbabstrakten, bisweilen surreal anmutenden Figurationen
findet.
Er ist zugleich ein von der Montessori-Methode beseelter Kunstpädagoge,
was seine
Experimentierlust unbedingt befördert.
Auf der Suche nach nichttoxischen Verfahren des Tiefdrucks ist er
vor einem Jahrzehnt auf das Karporundium gestoßen, ein Siliciumcarbid,
das gewöhnlich als Belag für Schmirgelpapier Verwendung
findet.
Der Franko-Amerikaner Henri Götz hat den Stoff als druckgrafisches
Gestaltungsmittel erst 1967 entdeckt. Das Verfahren ermöglicht,
wie Sie in dieser Ausstellung sehen, faszinierende Möglichkeiten
von Hell-Dunkel-Kontrasten und erdigen Tönen.
Zusätzlich bearbeitet der Künstler seine Bilder mit Grafit,
Kohle, Kreide, Schellack und Kaltnadel.Dabei lassen sich fünf
Werkgruppen ausmachen, die allesamt von ausschnitthafter Bewegung
gekennzeichnet sind und durchweg abstrakt anmuten:
1.Bilder, die von Dingen, etwa Werkzeugen und Artefakten ihren Ausgang
nehmen
2.Bilder mit vegetabilem Ausgangspunkt
3.Surreal anmutende Landschaften
4.Blockhafte, flächenbetonte Bilder
5.Arbeiten, die sich der Inspiration durch das Material des Bildträgers
verdanken.
Zu den letzteren zählen die aufgeklappten Milchtüten, deren
Innenseiten Tosch als Druckplatte benutzt. Über der beinahe sakral
anmutenden Staffelung der Falze geht scheinbar der Mond auf - in Wahrheit
der Ausgießer der Milchtüte.
Dieser Max Ernst-haften Experimentierlust verdankt Ferdinand Tosch
zahlreiche verblüffende Bilder.Das betrifft auch die Graffitzeichnungen
auf Transparentpapier, das ein deutlich schnelleres Arbeitstempo evoziert.
Ausgehend von den häuslichen Dingen eines Hauses in der Toskana
entstand eine große Serie von Zeichnungen, in der das Große
und das Kleine maßstäblich gleich behandelt wird. In ihrer
Ausschnitthaftigkeit und mit radikalen Bildschnitten werden die Dinge
zusätzlich verfremdet und auf ihre strukturelle Erscheinung reduziert.
"Hommage an Raffaelo" nennt Tosch eine Bildreihe mit Graphit,
Kreide und Schellack auf braunem Papier, die beinahe topographisch
anmutet.
Motivischer Impuls war auf die auf den Treppen hingestreckte Figur
des Kynikers Diogenes in Raffaels berühmter "Schule von
Athen" im Vatikanpalast.
Die Detail-Studien zu diesem epochalen Werk hatte Tosch im Mailänder
Brera-Museum gesehen.
Der
körperliche und kunsthistorische Aspekt ist in der Ausführung
jedoch beinahe getilgt.
Was bleibt, ist eine geradezu haptische Landschaft, der gleichsam
plastische Schwung der Linie.
Ihren Höhepunkt erreicht diese Verselbständigung der Linie
vom motivischen Anlass in der panoramenhaften Großzeichnung
im Obergeschoss.
Hier lässt der Künstler seine grafischen Zügel schießen,
und man erkennt, wie frei schöpferisch sich seine Linie sich
dabei entwickelt.
Sie wird zum Dickicht, zur Welle, zum metamorphen Gesicht, zum Horizont,
zur Bergkontur und zum Unterholz - gleichsam eine écriture
automatique, die den Betrachter zur freien Assoziation verführt.
Eine gleichsam psychogrammatische Linie. Versteckt sich aber nicht
auch im Liniengestrüpp ein Selbstportrait, oder mehr als nur
eines? In jedem Fall steckt Tosch ganz darin:
Ein Choreograph seiner inneren Bewegungen.
Und er weiß Gegensätze spannungsvoll auszureizen:
Das Schwebende und das Verwurzelte,
das Offene und das Geschlossene
Das Helle und das Dunkle,
das Leichte und das Schwere
zu Bildern von amorpher Vieldeutigkeit
Die Linie bleibt dabei sein Hauptgestaltungsmittel - und ihre Dynamik
wirkt jeder tektonischen Erstarrung entgegen.
Toschs Bilder wirken stets gewachsen, nie gebaut.
Unverzichtbar
für diese Lebendigkeit ist dabei der ständige Dialog mit
der Natur.
Auch Herta Seibt de Zinsers Rundeisenskulpturen entstehen in eben
diesem Dialog. Weit
ausgreifend, in konvulsorischen, tänzerischen Bögen folgen
die ineinander gesteckten und gekonnt gebogenen dünnen Eisenrohre
sowohl dem natürliche pflanzliche Wachstum, als auch einem künstlerischen
Credo: die Poesie der Unerreichbarkeit.
Damit zeigen diese in die dritte Dimension auswachsenden Bilder, die
Sequenzen aus dem ewigen Wachstumsprozesses beschreiben und zugleich
kraftvoll die Gegenwart des Raumes prägen, eine Verwandtschaft
zur romantischen Figur der Arabeske. Denn sie zielen aufs Unendliche.
Dem entspricht auch die Verwandlung der Schwere in Leichtigkeit und
- vor allem die rhythmische Eleganz der Linie, die mit ästhetischer
Entschiedenheit florale Grundformen - den Umriss eines Blattes oder
Blütenkelchs nachvollzieht, und doch prinzipiell zu jeder Veränderung
fähig ist.
Wie sehr diese gewundenen Strukturen auf exakter Naturbeobachtung
beruhen, wie bereitwillig sich der abstrahierende Blick der Künstlerin
auf gegebene Formen und Figurationen festlegen kann, zeigen, hier
erstmals öffentlich ausgestellten Pflanzenstudien: Eine Dolde,
eine blühende Anemone, eine Bananenstaude oder ein vertrockneter
Tomatenstrunk - allesamt Ausdruck des Staunens über die unerschöpfliche
Kreativität der Natur.
"Wachstum regt sich" noch im Kleinsten - Blätter, Blüten,
Stengel und Fruchtstände,
wie sie von einem frühen Expeditionsteilnehmer zum ersten Mal
staunend und mit diagnostischer Akribie zu Papier gebracht.
Inspirationsquellen sicher, für ihr plastisches Werk, aber auch
eine völlig autonome Werkgruppe, die mit sensiblem, präzisem
Strich die Freude am Sichtbaren feiert - und immer bleibt genügend
Raum auch für die Fantasie.
Müßig, die Frage, ob die Freude am Vegetabilen im Werk
dieser Künstlerin sich der üppig
wuchernden Flora ihrer südamerikanischen Heimat verdankt.
Nein, hier wirkt kein Exotismus. Vielmehr die Kraft eines gestalterischen
Sehens, das nach dem Undarstellbaren strebt, folglich notwendig ins
abstrakte Terrain vorstößt, sich aber auf beinahe anrührende
Weise auch im Konkreten zu bescheiden weiß.
Ein Blick, der das betrachtende Subjekt nie offensiv ins Zentrum rückt
sondern einbezieht, ja selbstverständlich in sich schließt.
Das "Ich" als Medium der Transformation.
Dies trifft natürlich auch für Ferdinand Tosch zu.
Goethes
Worte aus dem berühmten, seiner Frau zugeeigneten Gedicht
"Metamorphose der Pflanzen" berühren,
wie ich finde, das Werk beider, und sollen als Würdigung dessen,
was sie verbindet,am Ende dieser versuchten Annäherung stehen:
Und hier schließt die Natur den Ring der ewigen Kräfte;
doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an,
daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge
und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei…
Alle
Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;
und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,
auf ein heiliges Rätsel